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Forschungsprojekt ::
Komplexe Beziehungen: Komplexitätsforschung und bilaterale Beziehungen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und des Vereinigten Königreiches

Projektbeschreibung

Wie lassen sich zwischenstaatliche Beziehungsgefüge und deren Entwicklungsprozesse unter den Bedingungen einer komplexen, kontingenten Welt massiver Unsicherheiten und permanenten Wandels (Boulton et al. 2016; Gaddis 1992-1993; 1996; Jervis 1997; Rosenau 1990; 1995; 2003) theoretisch fassen sowie methodisch analysieren?
„Das Studium bilateraler Beziehungen wirft erhebliche methodische Probleme auf.“ (Knapp 1975, S. 15) Wenn auch seit dieser Feststellung Manfred Knapps vier Jahrzehnte vergangen sind, bedeutet eine Untersuchung bi- oder plurilateraler Interaktion allgemein sowie deren Entwicklungsdynamik im Besonderen, im „Nexus zwischen Außenpolitik und Internationalen Beziehungen“ (Harnisch et al. 2015), unverändert sowohl theoretisch als auch methodisch eine Herausforderung. Ein möglicher Grund, warum Studien bilateraler Gefüge oftmals stark deskriptiv und in den main stream-Theorien der Internationalen Beziehungen (IB) analytisch unterkomplex ausfallen: sei es etwa als „Machtbeziehungen“ im Realismus, als „Vertragsbeziehungen“ im Institutionalismus oder als „Identitätsbeziehungen“ im Konstruktivismus (Harnisch 2015, S. 34-41).
Versuche diese Interaktionsebene (Wendt 1999; S. 145ff.) zu fassen, blieben mit wenigen Ausnahmen (z. B. Allianztheorien, Hanrieders Konzept des „penetrierten Systems“, Rosenaus linkage theory) in den IB entsprechend lange ein Randthema. Das Aufkommen des Transnationalismus in den 1970er Jahren bedeutete eine wichtige analytische wie inhaltliche Perspektiverweiterung für die Beziehungsforschung. Erst die sogenannte Konstellationsanalyse der Münchner Schule des Neorealismus (MS) jedoch schlug mit ihrem multiperspektivischen Mehrebenenansatz, multimethodischen und synoptischen Vorgehen ein den komplexen Gegenstand bi- oder plurilateraler Beziehungsgefüge ernstnehmendes Analysewerkzeug vor (Kindermann 1986; Kindermann 2002; Meier-Walser 2010). Seine Herangehensweise und Kategorien blieben indes zu statisch und momentorientiert, um Prozesse der Veränderung, von Kontinuität und Wandel, sowie deren Grundlagen analytisch in deren Dynamik fassen zu können. Auch Weiterentwicklungs- und Neuorientierungsversuche der Zweiten Generation der MS (Meier-Walser 1994; Meier-Walser 1994), die u. a. Elemente der Systemtheorie aufgriffen, konnten dieses Problem weder wissenstheoretisch noch forschungspraktisch beseitigen.
Die in den IB vom Konstruktivismus aufgegriffenen Überlegungen zur Rolle von Akteur und Struktur (Wendt 1987; Wendt 1999), die Diskussionen zwischen Rationalismus und Reflektivismus im Rahmen der Dritten Theoriedebatte der IB (Siedschlag et al. 2007, S. 182-185), der „relational turn“ in den IB mit seinem prozesshaften und interaktiven Verständnis des Verhältnisses von Akteuren (Jackson und Nexon 1999), der „Neue Institutionalismus“ in der Historischen Soziologie (Hall und Taylor 1996; Mahoney 2000; North 1990; Steinmo et al. 1992) sowie die Neubetrachtung der Systemtheorie lieferten in den 1990er Jahren im Fach neue Impulse für die Analyse von Kontinuität und Wandel sozialer Systeme. Diese trugen indes der Herausforderung des Umgangs mit (der vermeintlich zunehmenden) Komplexität des Untersuchungsgegenstands, der eigentlichen Gretchenfrage der zeitgenössischen IB, meist genauso wenig Rechnung wie die etablierten Ansätze oder deren postmoderne Fundamentalkritiker.
Mit Blick auf die immer häufiger vorgetragene These einer Krise der IB (u.a. Buzan und Lawson 2001; Dunne et al. 2013; Gaddis 1992/1993; Lebow 2010; Mearsheimer und Walt 2013; Rosenau 1995) zeichnen sich zwei Richtungen der Reaktion auf diese innerhalb des Fachs ab, mit einer mittlerweile nicht unerheblichen Bandbreite an Zwischenstufen: Auf der einen Seite steht der Versuch im Rahmen des neopositivistischen, rationalistischen Paradigmas, das seit den späten 1950er Jahren im Fach dominiert hat, auf die vermeintlich neuen globalen Gegebenheiten zu reagieren und diese mit verfeinerten, quantitativen wie qualitativen Analyseinstrumenten (künftig) erklären zu können.
Auf der anderen Seite gewinnt die Überzeugung, dass die Disziplin aus ihrem „deep Newtonian slumber“ (Ruggie 1998, S. 194) aufzuwecken sei an Anhängern unterschiedlichster Provenienz. Es bedarf aus dieser Warte letztlich der Relativierung, wenn nicht gar Überwindung der wesentlich durch die US-amerikanische IB geprägten, ontologischen, epistemologischen wie methodologischen Prämissen, um globale Komplexität und deren Dynamik wissenschaftlich fassen zu können. Alternative wissenschaftsphilosophische Ansätze (vgl. Archer 1995; Bhaskar 1975; Bhaskar 1979) und theoretische Entwicklungen in anderen Disziplinen, insbesondere die Rezeption des Kritischen Realismus (Wight 2006) und der Komplexitätstheorie (vgl. Axelrod 1997; Cederman 1997; Clemens 2013; Hoffmann 2003; Harrison 2006; Jervis 1997; Kavalski 2007; 2015; Rosenau 1990; 2003), lassen manchen eine Wende zur Ontologie fordern (vgl. Jackson und Nexon 1999; Wendt 2015; Wight 2006) und von einer bevorstehenden Fünften Theoriedebatte der IB sprechen (Kavalski 2007; Jackson und Nexon 2013), wenn nicht gar von einem Paradigmenwechsel im Fach (vgl. Kavalski 2015).
Parallel dazu, aber in Teilen korrespondierend, wächst die Forderung, die Bande zwischen IB und Geschichtswissenschaft wiederherzustellen, die IB als „historische Sozialwissenschaft“ des Globalen wieder in Dialog mit den Nachbardisziplinen zu bringen (u.a. Buzan und Lawson 2015; Buzan und Lawson 2016; Hobson und Lawson 2008; Reus-Smit 2016).
Auch die Beziehungsforschung nimmt diese Entwicklungen auf: Dabei greifen neuere Studien zum einen im Interesse der analytischen Berücksichtigung der vielfältigen Bedingtheiten bilateraler Interaktion den Trend des theoretisch-methodischen Eklektizismus (Sil und Katzenstein 2010) auf (u.a. Krotz und Schild 2013), oder versuchen zum anderen die gezielte Ergänzung bestehender Ansätze (u.a. Dinger 2013; Harnisch et al. 2015).
Das vorliegende Projekt ordnet sich in letztere ein und postuliert die Gültigkeit der „complexity theory challenge“ (Hoffmann und Riley 2002, S. 303) auch für die Beziehungsforschung. Es macht entsprechend die komplexe Systemtheorie für die Analyse bilateraler Beziehungsdynamik – in diesem Fall die politischen deutsch-britischen Beziehungen nach 1945 – nutzbar. Es gilt zu zeigen, wie sich Beziehungsgefüge als Komplex-Adaptive Systeme (Complex Adaptive Systems, CAS) fassen lassen, was dies erkenntnistheoretisch bedeutet und wie sich die dynamischen Prozesse eines solchen Systems methodisch untersuchen lassen. Denn eine im Lichte der eben skizzierten Entwicklungen um das Phänomen der Komplexität erweiterte, systemtheoretische Perspektive (u.a. Albert et al. 2010; Braumoeller 2016; Kavalski 2015) birgt – aus der Sicht des Autors – eine brauchbare Antwort auf die Gretchenfrage der IB: „In an increasingly interconnected global world that is ever challenging our understandings of it, the capacity to think systemically remains an ever more pressing need, both as an analytical lens and as a practical guide to political action.“ (Bousquet und Curtis 2013, S. 59)

Angaben zum Forschungsprojekt

Beginn des Projekts:Mai 2011
Ende des Projekts:Juli 2020
Projektstatus:abgeschlossen
Projektleitung:Ludwig, Dr. Andreas N.
Lehrstuhl/Institution:
Finanzierung des Projekts:Sonstiges
Schlagwörter:Beziehungsforschung, Komplexität, Theorien der Internationalen Beziehungen, Deutschland, Vereinigtes Königreich
Themengebiete:M Politik; Soziologie > MK Internationale Politik
M Politik; Soziologie > ML Die Außenpolitik einzelner Länder
N Geschichte > NQ Geschichte seit 1918
Projekttyp:Promotionsprojekt
Projekt-ID:2490

Publikationen

Liste der Veröffentlichungen auf dem Publikationserver KU.edoc der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Eingestellt am: 29. Jun 2018 10:31
Letzte Änderung: 03. Aug 2020 09:52
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